Wenn Radio begeistert.
Weitere Lieblingsstücke zum Lauschen, Lernen, Lust machen
Radio machen ist toll. Radio hören auch. Nicht immer, aber immer wieder. Dann, wenn einem Stücke ins Ohr fallen, die begeistern durch ihre Machart, ihre Intensität, ihre Wirkung.
Deshalb hier Teil 6 der Hörtipps für Anfänger, alte Hasen, Radiofreaks.
Dieses Mal ausgewählt und kommentiert von Stefanie Müller- Frank, Joachim Budde und Sandra Müller.
1 „Dead Mom Talking“ von Rachel Matlow
2 „Ich renne durch den dunklen Raum und jubele“ von Rainer Schildberger
3 „Eine Notrufnummer in der Schweiz“ von Daniel Stender
4 „Too Many Brown Faces“ mit James O’Brien
1 Dead Mom Talking
von Rachel Matlow (cbcradio, 8. Mai 2016)
Länge: 14:28
Stefanie:
Könnte ich nur noch einmal mit ihm sprechen! Diesen Gedanken kennt jeder, der schon mal einen Menschen verloren hat, den man geliebt hat. Zu banal, zu persönlich also, um daraus eine Geschichte fürs Radio zu machen.
Ausser man hat so eine geniale Idee wie Rachel Matlow. Als die kanadische Radioproduzentin erfuhr, dass ihre Mutter bald sterben würde, zog Rachel Matlow bei ihr ein und liess in den letzten Wochen das Band mitlaufen. In der Küche, beim Spazierengehen, Fernsehgucken, Reden. Aus diesen O-Tönen baute sie nach deren Tod einen fiktiven Dialog zwischen Mutter und Tochter – ein Gespräch mit eben jener Person, deren Trost sie jetzt am meisten vermisste.
Mich inspiriert daran:
- Die Idee: So naheliegend und doch komplett überraschend. Da hat eine Radiomacherin ihren Wunsch zu Ende gedacht, von ihrer toten Mutter getröstet zu werden, und das kurzerhand vertont. Natürlich greift sie zu einem Mittel, das die Grenzen des Dokumentarischen sprengt, denn das Zwiegespräch hat so nie stattgefunden. Und doch klingt es wie ein alltägliches, fast beiläufiges Telefonat zwischen den beiden.
-
Die Sprechhaltung: Der Autorentext wirkt nicht wie geschrieben, sondern wie spontan eingesprochen. Bei der Produktion hatte die Radiomacherin Rachel Matlow (wie sie hier in einem Werkstattgespräch erzählt) die Stimme ihrer Mutter auf dem Kopfhörer, um den eingesprochenen Text an die O-Töne anzupassen – ihn also bei Bedarf spontan verändern zu können, bis es wie ein natürliches Gespräch klang, bei dem gelacht, geseufzt, geweint und sich gegenseitig unterbrochen wird.
- Der Mut zur Schlichtheit: Mich beeindruckt, wie Rachel Matlow fast alles weglässt, was man in so ein Stück noch nachträglich hätte einbauen können: Atmos, Musik (bis auf eine Stelle) – aber auch jede klug gemeinte Metareflexion. Ohne von der Autorin zugetextet zu werden, dürfen die O-Töne der Mutter in ihrer Verletzlichkeit für sich stehen. Auch wenn ihr Atem dabei mal gegen das Mikrofon poppt und ihre Stimme gegen Ende immer brüchiger wird, klingt das Stück lebendiger als so mancher Text/O-Ton-Beitrag, den man tagein, tagaus im Radio zu hören bekommt.
Zum Vergleichen und Weiterhören: Zwei weitere tolle Beispiele von RadiomacherInnen im Gespräch mit ihren Müttern (und was dabei an ebenso bewegenden, aber komplett anderen Sendungen herausgekommen ist):
- Lorenz Rollhäuser: Mutters Schatten – Kehraus im Elternhaus (NDR 2008, ausgezeichnet mit dem Prix Europa)
- Marietta Schwarz: Mutti und ich – Geschichten aus der Provinz (Podcast/ Eigenproduktion 2016)Zurück zur Übersicht.
2 »Ich renne durch den dunklen Raum und jubele«
Von Rainer Schildberger (NDR Kultur, Kulturforum, 11. Juli 2017)
Länge 53:47
Joachim:
U21-EM und Confed-Cup haben ein anderes Fußballereignis in Deutschland in den Schatten gedrängt: Die Europameisterschaft der Blindenfußballer in Berlin. Wer denkt, das sei ohnehin eine langweilige Angelegenheit, sollte sich dieses Radiofeature anhören. Es öffnet eine Welt, wie es nur dem Radio gelingen kann. Denn den Hörerinnen und Hörern geht es genauso wie den Spielern, auch sie können weder den Ball, das Spielfeld noch das gegnerische Tor sehen. Aber allein die tollen Atmo-Töne ermöglichen es ihnen, sich ein erstaunlich detailliertes Bild von dem zu machen, was diese Sportler leisten. Die Spieler rufen sich gegenseitig Dinge zu, der Trainer und Hintertorassistenten helfen den Spielern sich zu orientieren,
Ein paar Aspekte gefallen mir besonders an diesem Feature:
- Es kommt völlig ohne Sprechertext aus. Die O-Töne der Protagonisten sind so montiert, dass sie die Zuhörer in das Stück hineinziehen und bis zum Schluss nicht mehr loslassen. Das erfordert ganz konzentrierte Interviews, weil man schon dabei darauf achten muss, dass man alles mitbringt, was man später im Studio benötigt, die Beschreibungen der Szenen, die Einführung in neue Schauplätze, etc.
- Der Autor benutzt für die Beschreibung des Spiels zwischen Deutschland und der Türkei den Kommentator. Der erklärt erstmal die Besonderheiten, die es im Blindenfußball gibt. Das ist ein sehr ansprechender Kniff.
- Das Feature schafft Interesse für den Alltag blinder Sportler, Menschen, und auch dazu liefert das Feature akustisch attraktiv verpackte Szenen mit den beiden Spielern, die im Mittelpunkt stehen: Sei es beim Orgelspielen oder in ihrer Schule.
- Dabei kommt das Stück gänzlich ohne eine falsche Mitleidsmasche aus. Die Jungs sagen das selbst: »Ich möchte auch nie sehen können.« Und: »Ich bin zwar blind, ja gut, aber ich kann ja alles machen.«
- Regisseurin Friederike Wigger hat mit einer Myriade Schnitte das gute Atmo-Material wunderbar verdichtet und kleine Geräusche ganz subtil eingesetzt, wenn der Erzählstrang neu ansetzt: Sei es, dass ein Hahn kräht, der Schiri pfeift oder ein Zuschauer »Pscht« macht. Die Schlagzeugmusik hat mich an steichelnde Bälle erinnert – auch das passt super. Da steckt unglaublich viel Arbeit drin.
3 »Eine Notrufnummer in der Schweiz«
Von Daniel Stender (Deutschlandfunk Nova, 10. April 2015)
Länge 15:44
Sandra:
Was für eine Geschichte! Über einen Pfarrer in der Schweiz, der Tag und Nacht für Menschen erreichbar ist, die auf der Flucht in Not geraten. Denn irgenwie hat sich seine Nummer rumgesprochen. Da, heißt es, kriegt man Hilfe. Und der Pfarrer versucht tatsächlich zu helfen. Ebenso wie die Radiomoderatorin, die von Flüchtlingen angerufen wird. Auch sie, versucht zu helfen. Aber wie? Das Stück erzählt ganz ohne Action und Pathos, dass man fast immer etwas tun kann. Irgendwie.
Was mich an dem Stück fasziniert:
- Die Ruhe der Erzählung. Daniel erlaubt sich vor allem anfangs Pausen nach schmerzhaften Sätzen. Sein Stil ist gefasst und schlicht. Die Sätze wirken gerade dadurch tief und gesetzt ohne überzogenes Pathos. Gerade bei so einem Thema ist es nicht leicht, die richtige Balance zu finden. Hier ist das für mein Gefühl perfekt gelungen.
- Die Art wie Atmo und O-Töne verwoben sind. Mir gefällt diese Technik, die O-Töne schon unter dem Reportertext beginnen zu lassen und sie dann an der richtigen Stelle laut und frei zu stellen. In amerikanischen Podcasts ist das längst üblich. Im deutschen Radio hört man es noch selten. Gerade bei Portraits oder Stücken, in denen die Begegnung mit dem Gesprächspartner ja auch aktiv besprochen wird, vermittelt mir das als Hörerin eine schöne Atmosphäre. Es nimmt mich mit hinein ins Gespräch und die Begegnung.
- Die Art wie das Meeresrauschen eingesetzt ist. Als Patzhalter für die Gedanken der Hörer: Wie ist das wohl? Von einem Menschen auf dem Meer angerufen zu werden? Wie ist das wohl? Für die, die von dort anrufen? Die Atmo ist eine Art Pausentaste: Der Beitrag ist weg und immer noch da. Und der Hörer hat Raum zum Fühlen.
- Die Transparenz. Daniel erzählt beiläufig immer wieder, wie der Beitrag entstanden ist. Wo er seine Gesprächspartner getroffen hat. Unter welchen Bedingungen. Und dass er manche Töne nicht bekommen hat. Beim Gespräch mit der Radiomoderatorin ist man für einen Moment dabei, als er das Interview führt. Mir macht ihn das glaubwürdig.
- Die Art wie die Fakten in die Erzählung eingeflochten sind. Beiläufig nämlich. Denn auch wenn es um einen helfenden Pfarrer und eine Moderatorin geht: Es geht auch um die Bedingungen der Flucht.
4 »Too Many Brown Faces« – Interview mit einem rassistischen Anrufer
Von James O’Brien (LBC, 8. Dezember 2017))
Länge 5:11
Sandra:
LBC ist ein Sender mit irre viel Hörerbeteiligung. Es gibt dauernd Callins und Talk-Sendungen. Meines Wissens nach meist live. Oft geht es um Politik. Nichts wird ausgespart. Und seit eine Mehrheit im Land entschieden hat, dass Großbritannien aus der EU austreten soll, ist der „Brexit“ ein permanenter Themenschwerpunkt. Fremdenfeindlichen Untertöne on air bleiben da nicht aus. Aber die ModeratorInnen bei LBC gehen beeindruckend klar damit um. Jüngstes Beispiel: James O’Brien, der einem Hörer geduldig erklärt, warum er es nicht hinnehmen will, wenn der sagt, er habe für den „Brexit“ gestimmt, weil ihn „die vielen dunklen Gesichter“ in der Klinik und im Supermarkt stören.
Was mich an den Gespräch fasziniert:
- Alles.
- Der Respekt und die Ruhe, mit der James O’Brien dem Hörer begegnet, obwohl er seine Aussagen eindeutig nicht nachvollziehen kann.
- Die Klarheit, mit der er die Haltung des Anrufers als das benennt, was es ist: Rassismus.
- Die Fähigkeit, in einer vermeintlich ideologischen Diskussion ganz praktisch und lebensalltäglich zu argumentieren.
- Wie gesagt: Alles.
Viele Interviews und Hörergespräch bei LBC taugen übrigens als Vorzeigebeispiele. Meist findet man sie unter http://www.lbc.co.uk/radio/best-of-lbc/.
Lust auf noch mehr Beispiele für gutes Radio?
Dann hier im Blog immer wieder mal unter „Best Practice“ nachsehen oder Sandra Müllers Tweets dazu durchstöbern. Und na klar: Selber was vorschlagen! Was hat Euch den zuletzt an denn Ohren gepackt? Lasst es uns wissen.
Die bisherigen radio-machen.de-Hörempfehlungen:
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Teil 5
Über Joachim: Wissenschaftsjournalist in Bonn, liebt Radiofeatures. Quält sich jedesmal aufs Neue damit. Interessiert sich vor allem für die fiesen Kleinen, also Geziefer mit oder ohne Beine, gern auch ansteckend. Unterwegs vor allem für DLF, WDR, BR und SWR. Verirrt sich manchmal auch in Printprodukte. Twittert auch. Zurück zur Übersicht.
Über Stefanie: Freie Reporterin für Radio und Print. Ihr Feature „Sterben nach Plan – Protokoll einer letzten Reise“ (DLF/ WDR 2017) war für den Prix Italia nominiert. Sie ist Mitglied im Reporter-Forum Schweiz und schreibt im Newsletter immer wieder über Geschichten, die sie besonders beeindruckt haben. Zurück zur Übersicht.
Über Sandra: Liebt Radio-Hören und -Machen. Schreibt deshalb darüber in diesem Blog. Ist hin und weg, übers Netz viele Leute gefunden zu haben, die sich auch gern an den Ohren packen lassen und darüber reden. Sucht Gleichgesinnte auf allen Kanälen. Zurück zur Übersicht.