Zukunftswerkstatt Radionachrichten: Hauptsache nicht langweilig.

Wo die Zukunft im privaten Radio schon begonnen hat.
Anregungen und Beispiele von Norbert Linke

Nix Neues im Radio? Die Nachrichten wie eh und je? Als Meldungen, mit Leadsätzen und emotionsfrei, strenger Nachrichtensprache?

Bei der Zukunftswerkstatt Radionachrichten in Magdeburg haben RadiomacherInnen versucht, das zu ändern.

Auf Einladung des MDR Sachsen-Anhalt, der ARD.ZDFmedienakademie und der Akademie für politische Bildung Tutzing, haben private und öffentlich-rechtliche Hörfunker ausprobiert, wie Radionachrichten auch klingen könnten.

Schon vor den Workshops gab es dazu Anregungen. Die zeigen:
Die Zukunft hat in Teilen schon begonnen.
Beispiele von Norbert Linke:


Die klassische Nachricht ist tot? Die „Pyramide“ out? Kaum, auch die Nachricht nach Lehrbuch hat in der Zukunft ihren Platz. Allerdings wird sie an ihrer Seite innovative Formen haben, die mit dem traditionellen Nachrichten-Handwerk brechen. Innovativ in diesem Sinne ist das Privatradio, das seit jeher freier mit handwerklichen Traditionen umgeht. Seit es in Deutschland privates Radio gibt, also seit Mitte der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sind hier innovative Nachrichtenformen on Air.

Form, Inhalt & Verkaufe: Was gibt´s Neues?

Neben vielem nachrichtlichen Graubrot auch auf privaten Wellen gibt es immer wieder bemerkens-werte Lösungen, inhaltlich und formal – gewissermaßen Nachrichten-Bäckerbrötchen. Hier einige aktuelle Beispiele:

1. BigFM: Label-Mania

BigFM produziert in Baden-Württemberg für eine 18-35 Jahre alte Kernzielgruppe, die der Sender als „junge, hedonistische Erwachsene“ charakterisiert.

Die Herausforderung für das Programm besteht darin, diesen  jungen „Hedonisten“ Nachrichten schmackhaft zu machen. Der Sender hat dafür zwei bemerkenswerte Lösungen gefunden:

  • Es gibt stündlich unmittelbar vor den News ein sog. „News-Voting“ zu einem aktuellen Thema. Auf der BigFM-Website können Mitglieder der BigFM-Community zu einer vorgelegten Frage eine Meinung posten. Die Redaktion sichtet die Postings, ruft die interessantesten Teilnehmer an und zeichnet ein Statement auf.
  • Die einzelnen Meldungen der Nachrichten werden belabelt. Das heißt: Vor jeder Meldung steht ein produziertes Element, das das „Ressort“ vorgibt. Ca. 15 sind im Einsatz, z.B. Online, Social Network, Twitter-News, Polizeifunk, Technik, Sport, Promi-News, Skurril, Event, Musik, Rheinland-Pfalz, Polizeifunk, Welt, Wetter, Wirtschaft, Rhein-Main. Die Labels werden je nach Lage eingesetzt.

2. Hit Radio FFH: City-Dropping

FFH als langjähriger Radio-Marktführer in Hessen bemüht sich in den Nachrichten dezidiert, als hessisches Programm wahrnehmbar zu sein. Seit vielen Jahren ist redaktionsintern die „Hessen-Eins“ Pflicht, also die Maßgabe, wann immer möglich mit hessischen Stoffen aufzumachen.

Die Hessen-Kompetenz wird seit August 2013 zusätzlich unterstrichen durch eine spezielle Lösung in der akustischen Verpackung. Der produzierte News-Opener  enthält mehrere Ortsmarken, die in der Summe das Sendegebiet abbilden. Um das Sendegebiet akustisch ohne blinde geographische Flecken zu spiegeln, sind aktuell 20 verschiedene Versionen des Openers in der Rotation. Sie haben jeweils einen anderen Ortsmarken-Mix.

Die Rotation ist unabhängig von der konkreten Meldungslage, d.h. zu den „gedroppten“ Ortsnamen müssen keine Meldungen in der Sendung sein.

3. Radio Duisburg: Sub-Lokalität

Lokalradios definieren sich programmlich naturgemäß als Plattformen lokaler Information. Aber nicht jeder lokale Stoff interessiert jeden Hörer im Sendegebiet. Ein Sendegebiet kann derart inhomogen sein von seiner Geschichte her, seiner soziodemographischen Struktur und der Mentalität seiner Bürger, dass eine andere Strategie sinnvoll erscheint.

In Duisburg etwa verstehen sich viele Bürger der Stadt (die das Ergebnis der kommunalen Gebietsreform von 1975 ist) schlichtweg nicht als „Duisburger“. Denn die Stadt ist das Ergebnis der kommunalen Gebietsreform von 1975, die nach wie vor nicht bei den Menschen angekommen ist.

In den Lokalnachrichten um Halb bietet Radio Duisburg deshalb eine sublokale Fläche, Stadtteil-Nachrichten – als Regelangebot, also nicht etwa einfach fallweise und nach Lage platziert. Die Meldungen laufen nicht „regionalisiert“, also auseinandergeschaltet auf verschiedenen Frequenzen, sondern in einer Meldungsschlange.

Radio Duisburg verzeichnet seit der Programmreform 2013, als diese sublokalen Angebote eingeführt wurden, deutlich verbesserte Imagewerte für seine Nachrichten. Innerhalb eines Jahres ist die Zustimmung zu den Lokalnachrichten von 42 auf 57% gestiegen.

4. Radio Kiepenkerl: Storytelling

Radio Kiepenkerl (für den Kreis Coesfeld) ist einer der Reichweiten-Spitzenreiter unter den Lokalradios in NRW. In seinem Sendegebiet erreicht es Einschaltquoten von 44% (lt. E.M.A. 2014/I). Sein Programm setzt u.a. auf qualifiziertes Wort. Die LfM ermittelte einen lokalen Wortanteil von 17% während der lokalen Sendestunden (ein Spitzenwert).

Die Nachrichten von Radio Kiepenkerl zeichnet zweierlei aus:

  • eine ausdrückliche Höreransprache: Statt etwa einfach nur zu formulieren „Autofahrer müssen heute…“ heißt es z.B. „wenn wir (!) heute mit dem Auto unterwegs sind, dann müssen wir (!) uns auf lange Staus einrichten“. Das „wir“, das „Sie“, das „unser“ spielen eine große Rolle im Wording der Station. Radio Kiepenkerl  bearbeitet so aktiv die naturgegebene Distanz des Programms zu seinen Hörern
  • ein besonderer Erzähl-Stil: Regelmäßig werden Themen aus der Lebenswelt der Menschen im Kreis aufgegriffen. On Air werden die Storys über Hörerstimmen (Fragen, Befindlichkeiten, Sorgen) eingeflogen und in einem zweiten Schritt in der Sache bearbeitet. Der Sender zeigt so, dass er sich die Probleme seiner Hörer zu Eigen macht und sich um sie kümmert.

Damit realisiert Radio Kiepenkerl in den News die Erzählform „Story-Telling“ – also zu einem Sachverhalt nicht einfach die Fakten wiederzugeben, sondern sie in eine Geschichte einzubetten und quasi an einem Helden entlang zu erzählen.

5. Antenne Bayern: „Die Bayern-Reporter“

Antenne Bayern ist das erfolgreichste private Hörfunkprogramm Deutschlands mit gigantischen 1,28 Millionen Hörern in der durchschnittlichen Stunde. Die Antenne deckt ein großes Sendegebiet ab. Zugleich macht sie dem Hörer regionale Angebote.

Am Ende der Deutschland- und Welt-Nachrichten platziert die Antenne einen regionalen Umlauf, die „Bayern-Reporter“. Er ist ca. 1:30 lang und enthält drei Stücke zu je 30 Sekunden aus unterschied-lichen Regionen – jeweils mit einem produzierten Regional-Label versehen. Die Bayern-Reporter laufen in allen Nachrichten zur vollen Stunde im Tagesprogramm (Mo – Fr von 5 Uhr bis 20 Uhr).

Im Ergebnis sind diese regionalen Nachrichten nicht – wie so oft anderswo – ein bloßer regionaler Tender mit einem Sammelsurium belangloser Klein-Meldungen von der Reste-Rampe, sondern ein echter Hin-Hörer, in der Wahrnehmung der Menschen quasi der Höhepunkt der News.

Bemerkenswert ist der Zugang zu den Themen. Er ist selten frontal. Vielmehr wird stets ein individueller Zugang gesucht und gefunden. Allerwelts-Stoffe werden so zu solitären  Ereignissen.

 

Herausforderungen & Visionen: Das sollten wir anpacken!

1. Das Rewe-Prinzip: Jeden Tag ein bisschen besser!

Aus- und Fortbildung, Coaching und Air-Checking, Feedback und Training: In vielen Stationen werden Instrumente der Personalentwicklung weder wahrgenommen noch planmäßig eingesetzt.

Regelmäßige Begleitung der (v.a. jungen) Kollegen durch erfahrene Mitarbeiter und externe Coaches ist unverzichtbar. Ebenso Workshops, in denen Lösungen für typische Probleme der Nachrichten-arbeit gemeinsam und ohne Produktionsdruck erarbeitet und von allen Seiten begutachtet werden.

Das kann in- oder aushäusig sein, mit einem internen oder externen Trainer – wichtig ist, dass es überhaupt stattfindet.

2. Köder, Angler & Fisch: Ohne den Hörer ist Alles nichts!

Der zentrale Schwachpunkt der Arbeit vieler Nachrichtenredakteure ist: Sie halten sich nicht vor Augen, dass sie für Hörer produzieren. Vielmehr agieren sie mit der Einstellung: Was wollen wir transportieren?

Dabei ist es wie in der Mathematik: Eine Multiplikation mit Null hat immer Null zum Ergebnis. Man kann mit einer investigativen Recherche den Pulitzerpreis gewonnen haben – findet die Geschichte nicht zum Hörer, bleibt die Wirkung Null.

Heißt: Ohne Hörer-Relevanz (aus der Sicht der Hörer!) gibt es überhaupt keine Relevanz!

3. Kommunikation inhouse: Nachrichten und der „Rest der Redaktion“!

In vielen Häusern führt die Nachrichtenredaktion (auch räumlich) ein Nischen-Dasein. Häufig hinter einer eigenen Tür versteckt, im Kämmerchen. Sie arbeitet für sich, plant für sich, organisiert für sich.

Der CvD dagegen plant für die Fläche, nur für die Fläche; die News schauen, wo sie bleiben. Oft nehmen sie nicht an der Morningshow-Nachbesprechung teil und auch nur sporadisch an der allgemeinen Redaktionskonferenz. Das muss nicht sein und darf es nicht.

Nachrichtenredaktionen müssen ihre Expertise einbringen können in den Themenfindungsprozess. Ebenso sind sie angewiesen auf Feedback aus der großen Runde: Was hat heute Morgen funktioniert? Was nicht? Was habe ich verstanden? Was nicht?

4. Weg mit dem sprachlichen Setzkasten: Texte mit Farbe!

Wir haben gelernt: News gibt’s überall. News sind allgegenwärtig. Das mobile Web macht´s möglich.

Die reine Nachricht allein, also die nackte in Worte gefasste Information, kann es im Radio nicht sein. Die bekomme ich anderswo schneller als im Radio, das im Kern ein lineares Medium bleibt – ohne Zeitsouveränität für den Hörer.

Farbe kann helfen, den Hörer fürs Radio zu begeistern, auch für Radio-Nachrichten. Das bedeutet, dass die Nachrichten-Sprache auf Versatzstücke aus dem Textbaukasten des Nachrichtenredakteurs verzichten muss. Seit Menschengedenken fordern Nachrichtenpraktiker umgangssprachlichen Ausdruck in den News. Aber nach gibt es Formulierungen on Air, die niemand so zuhause seinem Schatz zumuten würde:

„Schatz, nach Angaben von informierten Kreisen gehen die Behörden davon aus, dass das Volumen der importierten Gasmenge aus Russland im Zuge der Krise um die Ukraine stabil bleibt“

5. Die Perspektive drehen: Durch die Brille des Hörers sehen!

Wenn wir uns Nachrichtentexte anschauen, dann machen wir immer wieder die Erfahrung: Es wird aus der Perspektive des Akteurs geschrieben. Was nicht verwunderlich ist: Viele News haben Presse-meldungen als Quelle, die naturgemäß einen Sachverhalt aus der Perspektive dessen transportieren, der die Mitteilung verschickt.

Aber: Was hat das mit meinem Hörer zu tun? Was bedeutet das für meinen Hörer? Wo verändert sich sein Leben? Worauf muss er künftig achten? Erklär die Welt! Das erwarte ich von News, die buchstäblich ankommen wollen beim Hörer: Dass sie sagen, was ein Sachverhalt bedeutet für ihn (oder sie) – am besten gleich im ersten Satz!

6. In  Augen- und Ohrenhöhe: Sprechen zum Hörer!

Was Apples Siri und Text-to-Speech-Software nicht ersetzen kann, sind buchstäblich sprechende Menschen. Denn im Radio geht es nicht um´s Vorlesen von Texten, sondern um authentische Kommunikation. Sprechtechnische „Unebenheiten“  eingeschlossen.

Das Gespräch 1-zu-1, das technisch nicht vermittelte Gespräch zweier Individuen, ist die primäre sprachliche Kommunikation unter Menschen. Sie ist, was uns am Natürlichsten erscheint und am leichtesten fällt. Und in der wir Alles richtig machen! Oder müssen Sie im freien Sprechen über Betonungen nachdenken oder darüber, wo sie atmen?

Radio funktioniert dann am besten, wenn es der unvermittelten Kommunikation so nahe wie möglich ist. Wenn sprechende Menschen den technischen Apparat und die schriftlich fixierten Texte vergessen machen.

Im Radio sprechen Menschen zu Menschen. Das ist, was Hörer suchen.

norbert_linkeNorbert Linke ist Inhaber der news-n-cast Radioberatung und Direktor der FFH-Academy. Als Trainer und Berater unterstützt er Nachrichtenredaktionen im gesamten deutschen Sprachraum. Von 1991 bis 2009 leitete er die Nachrichtenredaktion von HIT RADIO FFH. Davor war er für Radio- und TV-Stationen in Ludwigshafen, Ingolstadt, München und Stuttgart tätig.
Linke ist Autor zweier Radio-Standardwerke (Radio-Lexikon, 1997; Moderne Radio-Nachrichten, 2007). Im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung formulierte er ein Radio-Guidebook. In seinem Blog kommentiert er aktuelle Entwicklungen der Radio-Nachrichtenarbeit.

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Disclosure: Sandra Müller, die Betreiberin dieses Blogs, wird von der ARD.ZDF medienakademie dafür bezahlt, die Zukunftswerkstatt Radionachrichten publizistisch zu begleiten.

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