Eine Sendung wie ein Paukenschlag und der Versuch eines Urteils.
Na prima. Dieser Samstag ist dahin. Und eine Radiosendung ist schuld: Das DLF-Wochenendjournal „Knigge für Migranten“.
Denn was wie das übliche Samstagsvormittagsritual begann – ich höre nach dem Frühstück eine Sendung, irgendeine, meist als Podcast, und starte so entspannt ins Wochenende – endete heute mit (und ich übertreibe nicht) schlimmer Zerrissenheit. Denn kaum habe ich die Stöpsel im Ohr, wird mir klar: Das ist die irritierendste, faszinierendste, verstörendste, überraschendste Radiosendung, die ich je gehört habe. Aber warum?
Hier, der Versuch einer Antwort.
Und – kleines Vorab-PS – die Bitte um Diskussion. Ich wüsste wirklich gerne, was andere RadiomacherInnen darüber denken. Kommentare, Blogparade aber auch Statements/Mails, um sie hier im Artikel zu posten, erwünscht.
Warum also bewegt mich dieses Stück so? Oder erstmal: Worum geht’s eigentlich?
Um das genannte Wochenendjournal vom 17.5.2014 – eine einstündige Sendung von Ulrich Gineiger. Thema: Gewalt von Migranten. Oder wie es der DLF selbst schreibt:
„Wie soll die Gesellschaft umgehen mit Migranten, die den Staat des Gastlandes ablehnen, straffällig werden und die Polizei offenkundig hilflos reagiert?“
Ein brisantes Thema also. So viel weiß man, ohne reinzuhören. Aber den eigentlich Sog, das eigentlich Bäämm! kommt mit dem Hören.
Denn: kurzer O-Ton-Einstieg, Mini-Mod, dann schon ein Rap-Song wie man ihn sonst nie hört auf DLF: „Nur ein Augenblick“ von Harris. Und schon ist die Stimmungslage klar: Es geht um die Wut auf die, die sich als Ausländer/Migranten, daneben benehmen. Der Song ist aufgeladen.
„Wow!“, denke ich. Die gehen ran. Endlich mal (wieder) Musik mit Bedeutung im Radio. Mit Aussage. Abgestimmt auf das Thema. Klasse.
Noch nie hat mich ein Stück Radio so angefasst,verstört, begeistert,irritiert. Sofort Re-Play gedrückt. Auf der Suche nach einem Urteil. 2/2
— Sandra Müller (@radiomachen) May 17, 2014
Dann ansatzlos: die erste Moderation. Eine Szene. Der Moderator nimmt uns mit an eine Wuppertaler S-Bahn-Station. Buchstäblich. Denn nach wenigen Sätzen „springt“ das Gespräch in ein vor Ort gemachtes Interview. Man hört die Züge fahren, Palaver auf dem Bahnsteig. Ein Mann erzählt von einem Fall von Gewalt, den er selbst in einem Regionalexpress erlebt hat. Die Atmo packend. Die Erzählung höchst emotional. Es ist, als wär ich als Hörer dabei.
Das fasziniert mich. Sofort. Denn dieses Gespräch wirkt uninszeniert. Authentisch wie es authentischer nicht geht. In der Art habe ich das noch nie gehört. „Radio wie es sein soll,“ denke ich.
Doch dann: Der erste Nadelstich. Ein Satz des Interviewpartners:
„Die Nationalität kann ich nicht genau definieren. Es müsste also irgendwie aus dem Bereich des osmanischen Reichs gekommen sein, was da zustieg.“
Der Moderator/Reporter fragt nicht nach. Kommentiert nicht. Auch endet die aufgeladene Bahn-Geschichte des 1. Gesprächspartners, in der er erzählt, wie er von zwei mutmaßlich ausländischen Jugendlichen bedroht wird, unkommentiert mit:
„[Ich bin seitdem] nie wieder in eine Regionalexpress gestiegen […]. Ich wechsle die Straßenseite, wenn ich eine solche Altersgruppe mit einem solchen Pigmentierungsgrad sehe. Ich erinnere mich an die Beschimpfungen … Das gehört ja zum Krankheitsbild dieser sozialen Gruppe.“
Was folgt ist erneut ein höchst emotionales Stück: George Michael. „Everybody’s Gotta Learn Sometime“. Das wirkt über den Bauch, nicht über den Kopf. Und genau das bleibt ab jetzt die Machart der ganzen Sendung:
Der Moderator ist auch der Reporter. Er hat Gespräche geführt mit verschiedensten Menschen, die das Thema betrifft und berührt: Polizisten, den berühmten Bürgermeister Buschkowsky, Lehrer, Sozialarbeiter, manche selbst mit ausländischen Wurzeln. Und immer finden die Gespräche vor Ort statt. Immer ist alles höchst radiophon gestaltet. Auf eine Art, die einen nach meinem Empfinden extremen Hör-Sog entwickelt:
- Wenn Anmoderationen quasi-live während der Anfahrt zum nächsten Interviewpartner gesprochen werden.
- Wenn reportagige Schilderungen und situative Spontan-Reportagen von einem zum nächsten Thema überleiten.
- Wenn ein YouTube-Video quasi-live „nachreportiert“ wird.
Was für wundervoll radiophone Ideen! Ich bin begeistert.
Und doch fehlen mir irgendwann die DatenFaktenZahlen. Statistiken und Studien werden nur in den Interviews angesprochen, oder besser: angerissen. Ihre Einordnung wird nicht klar. Begriffe werden missverständlich eingesetzt. An einer Stelle weiß ich nicht mehr: Geht es jetzt um Gewalt gegen Polizisten allgemein, oder doch „nur“ um Gewalt von Migranten gegen Polizisten? Und wen meinen wir jetzt mit Migranten? Auch Deutsche mit ausländischen Wurzeln. Oder ist das alles eins?
Und irgendwann ärgere ich mich über unbenannte Widersprüche: Sagt nicht Bürgermeister Buschkowsky, Gewalt läge in der Kultur von Migranten, in ihrer Tradition? Und wenig später sagt die Lehrerin das genaue Gegenteil: Nämlich Migrantenkinder hätten oft ihren traditionell-kulturellen Halt verloren und seien deshalb so schwierig? Hätte man das nicht klar und deutlich kontrastieren, journalistisch ausarbeiten müssen? Denn so, wie es jetzt in der Sendung zur Sprache kommt, bleibt beim Hörer schnell der Eindruck, beide, Buschkowsky UND die Lehrerin, sagten dasselbe: Migrantenkinder sind halt tendenziell unintegriert, schwierig, kriminell, gewalttätig. Das sagen sie aber eben nicht.
Schockierend+in jeder Hinsicht ungewöhnlich: Thema-Machart-Musik.@DLF-Wochenendjournal über Gewalt von Migranten.http://t.co/0qwrQyPVC5 1/2
— Sandra Müller (@radiomachen) May 17, 2014
Am Ende bleibt bei mir also zweierlei (und zwar auch nach mehrfachem Hören):
Die große Faszination für eine grandios radiophone Darstellungsform. Noch nie habe ich ein derartig wichtiges, schwieriges Thema so unmittelbar erzählerisch und klanglich authentisch umgesetzt gehört wie hier. Für mich die perfekte Übersetzung der Fernseh-On-Reportage ins Radio. Bitte mehr davon.
Aber auch das untrügliche Gefühl: Diese Form scheitert an genau solchen heiklen Themen, wie das, das hier behandelt wird. Denn begriffliche Klarheit und journalistische Einordnung, Gegenüberstellung und Bewertung passen kaum in diese Art der Erzählung. Sie würden das Format sprengen, scheint mir. Oder einen Reporter voraussetzen, der immer und jederzeit definitorisch korrigiert. Aber dann wäre die packende Wirkung weg.
Und dennoch: Wie schön, dass mich Radio immer noch so anfassen, berühren, packen kann, dass ich dafür mit Freuden meinen freien Samstag „verblogge“. Und vielleicht gibt’s ja doch Möglichkeiten, das eine mit dem anderen zu verbinden? Möge die Diskussion beginnen.
Und nur zur Sicherheit: Mir geht’s um’s Journalistische, Radiohandwerkliche, Hörfunkische. Für Kommentare zur Frage „Wie umgehen mit gewalttätigen Ausländern/Migranten?“ ist hier kein Platz. Denn den gibt es schon anderswo.
Ich habe mich in meinem Blog ebenfalls zu dem Thema geäußert. Da ich gerade an einem Projekt zu dem Thema Migration und Asylpolitik arbeite, war es mir ein großes Bedürfnis mich dazu zu äußern. Ich habe schon länger beobachtet, dass wir Journalisten viel mehr machen könnten, anstatt unsere Leser und Hörer mit vielen Informationen auf verlorenem Posten stehen zu lassen.
http://fluchtpunkt-asyl.de/der-deutschlandfunk-fragt-knigge-fuer-migranten-und-laesst-den-hoerer-verwirrt-zurueck/
Das gehört zu den besten Reportagen, die ich je auf diesem Sendeplatz hörte. Nüchtern und radiophon, ohne Pflicht zur „gerechten Einordnung“ und verkrampfer Quote.
Wenn ich nicht selbst erlebt hätte, dass gestellte Raser die mit ihrem tiefergelegten Benz gelieferte Verfolgungsjagd mit der Polizei ernhsthaft begründeten, sie sich von solchen Gurken (gemeint waren die Polizeiwagen) doch nicht überholen zu lassen, hätte ich die geschilderte Situation mit der verprügelten Funkstreife nicht geglaubt.
Vor 20 Jahren wurde im selben Bezirk, in dem auch ich damals wohnte, ein Autofahrer sogar erstochen. Der wagte es, in der Tempo-30- Zone tatsächlich 30 km/h zu fahren, obwohl ein tiefergelegter BMW drängelte. Ich bin dort nach etwa dem 18. abgetretenen Rückspiegel an meinem, sowie den Autos meiner Besucher endlich weggezogen. Die Polizeibeamten haben Angst und betreten Häuser nur in angemessener Verstärkung. Selbst bislang seriös arbeitende Hausverwaltungen beugen sich inzwischen der Macht der Muskeln oder des Geldes, selbstverständlich zu Lasten der Mieter, die auf den Kosten permanenter Regelüberschreitungen (vom Stromdiebstahl bis zur systematischen Entsorgung fremden Gaststätten-Mülls) sitzen bleiben.
Die Reportage hat nur einen kleinen Teil des tatsächlichen täglichen Wahnsinns beleuchten können und eine Kernaussage: Bildung tut Not! Politiker, die nicht in Bildung investieren, können später nichts mehr retten, wenn die vernachlässigten Kinder erst vollwertige Mitglieder der stets wachsenden Parallelgesellschaften sind. Nur mit millionenschweren Bildungsprogrammen ist die kindliche Neugier erreichbar. Die Reportage ist ein Dokument über diese Folgen und höchst Preisverdächtig!
Ich finde schon lange dass das DLF-Wochenendjournal eine der unterschätztesten Sendungen ist. (Ich weiß gar nicht: Hat es jemals einen Preis bekommen?) Habe es früher Kollegen auch als Anschauungsmaterial für gelungene und sinnvolle Reportageformen empfohlen. Übrigens auch ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein Format entwickeln kann, wenn es in einer Hand ist. Die Form war diesmal auch nicht anders als sonst, und ich fand den Ton auch diesmal gut getroffen. Klar, in der klassischen „monothematischen-Magazin-Denke“ könnte man sagen: Da hat ein Erklärstück gefehlt – aber ich habe es in dem Fall nicht vermisst. Dass eine Sendung dieses Thema in seiner vollen Komplexität abbildet, kann man eh nicht erwarten – aber diese Sendung dürfte ja auch für niemanden die einzige Informationsquelle sein. Das ist bei anderen Themen wie Klima, Energiewende, Ukraine letztlich genauso. Ich denke, die Sendung hat klar vermittelt, dass die geschilderten Probleme diverse Ursachen haben (die eben nicht nur in der „Kultur“ und schon gar nicht den „Genen“) liegen, sondern auch etwas mit verfehlter Politik zu tun haben. Auch dass diese Probleme eben nicht mit rechten Parolen zu lösen sind, konnte kapieren wer sich darauf eingelassen hat. Auch jemand wie Buschkowsky wurde so befragt, dass er nicht als Experte rüberkam, sondern wie die anderen auch: als jemand, der aus seiner Rolle/Erfahrung etc. heraus sich sein subjektives Bild von der Situation macht.
Zu fragen, ob Radio das darf, würde ja unterstellen, dass von solchen Sendungen irgendeine eine Gefahr ausgehen könnte. Die sehe ich nicht, gerade weil die Sendung im Zweifel im Zweifel eher entpolarisiert. Sie spricht die Probleme an und lässt Leute erstmal doch recht glaubhaft erzählen, was ist und wie sie die Dinge erlebt haben. Die Sendung wäre vielleicht gerade dann gescheitert, wenn sie – und sei es durch die Gesprächspartner – Forderungen erhoben hätte oder sich angemaßt hätte, selbst schnelle Lösungen zu präsentieren. Deshalb fand ich gerade auch den Schluss mit der am Ende doch friedlich endenden Kontroverse zwischen der einen Migrantin und Ströbele recht stark.
Die Kommentare auf der DLF-Facebook-Seite – geschenkt. Manche Programmmacher erschrecken da immer, obwohl diese Zuschriften in absoluten Zahlen betrachtet letztlich wenige sind. Die, die dieses unflätige Zeug posten, haben letztlich vorher schon so gedacht, nicht durch die Sendung.
Solche Stücke gibts auf dem Sendeplatz öfter, ich erinnere mich an ein Stück aus einem Flutgebiet, das war auch beeindruckend, mit den Betroffenen steht der Reporter im leeren Haus und lässt sich die Wasserschäden zeigen. Berührendes Stück. Die Stärke der Sendung ist das Vor Ort Sein, finde ich. Journalismus im besten Sinne.
Für mich findet – auch ohne Erklärstück – klar eine Positionierung statt. Denn die Fragen des Reporters zeigen ja deutlich, wie er sozialisiert ist. Bürgerlich, liberal, tolerant. Halt von dort, wo man eigentlich nicht sagen darf, dass bestimmtes, sozial unerwünschtes Verhalten in manchen Gruppen öfter vorkommt. Weil das doch diskriminierend ist. Von dort, wo man hilflos darauf reagiert, wenn manche Menschen schlimmen Klischees entsprechen.
Für mich ist das Tolle an dem Beitrag, dass der Reporter einen mitnimmt im Versuch sich diesem Tabu zu nähern. Ich finde jedenfalls, die Wahl der Interviewpartner macht klar, dass er sich dem Phänomen stellen will. Er will zeigen, was wirklich ist und nicht nur, was sein sollte. Aber er versucht dabei ja deutlich auch Leute zu finden, die das in sein eigenes Weltbild integrierbar machen. Leute, die differenzieren. Die ihm die Frage beantworten, wie man dieses Problem anerkennt und angeht, ohne dass es ins Diskriminierende geht.
Hallo,
spannende Sendung und spannend und gut geschriebener „Radio machen“ – Beitrag von Sandra Müller. Aber warum ist die Frage auf MigrantInnen beschränkt -sind „Nicht-MigrantInnen“ leichter auszuhalten, die den Staat und die Grundrechte verlachen? Fragt ein lesender Selbstständiger