Wenn Radio begeistert.
Weitere Lieblingsstücke zum Lauschen, Lernen, Lust machen
Radio machen ist toll. Radio hören auch. Nicht immer, aber immer wieder. Dann, wenn einem Stücke ins Ohr fallen, die begeistern durch ihre Machart, ihre Intensität, ihre Wirkung.
Deshalb hier Teil 3 der Hörtipps für Anfänger, alte Hasen, Radiofreaks.
Dieses Mal ausgewählt und kommentiert von Udo Stiehl, Harry Röhrle, Patrick Fina, Tom Leonhardt und Sandra Müller.
- „Stichtag“ zum Amoklauf von San Diego. Von Frank Kühn (2014, WDR)
- Schule, chillen, Schlagzeug spielen – Kinder in Deutschland erzählen. Von Wiebke Köplin, Massimo Maio und Margot Overath (2013, DRadio Kultur)
- Heute ist Mittwoch der 10. Dezember. Von Eran Schaerf (2009, BR)
- Kids – Berlin-Kreuzberg, 7 Mädchen, 365 Tage. Radio-Doku-Soap von Katrin Moll (2014 SWR, DRadio Kultur)
- Gentechnik mit Bastelanleitung – Wenn Biohacker in Garagen mit Erbgut spielen. Von (2014 BR)
1. WDR- Stichtag zum Amoklauf von San Diego (29.01.1979)
von Frank Kühn (2014, WDR)
Länge: 4:39
Udo:
Das Stück erinnert an den erschütternden Amoklauf von San Diego. Eine 16jährige erschoss an einem Montag Morgen acht Schulkinder und einen Polizisten.
In diesem Beitrag zeigt Radio seine „Kino-im-Kopf“-Fähigkeit. Ausgehend von einem Song, den jeder kennt, baut Frank Kühn einen Hörfilm und löst Bilder aus, die den Hörer in die Geschichte geradezu hineinsaugen.
Besonders faszinierend:
- Schon nach wenigen Sekunden geschieht der erste Aha-Effekt: In „I don’t like mondays“ von den Boomtown Rats geht es gar nicht um den verkaterten Wochenende-Partygänger, der Montags keine Lust hat, aufzustehen? Es gab schon vor 35 Jahren in den USA einen Amoklauf an einer Schule? Verbunden mit dem Song werden die Ereignisse eingeordnet – Schritt für Schritt, unterstützt von O-Tönen der Täterin, der Berichterstatter und von Psychologen.
- Exzellent gesprochene Zwischenmoderationen bilden betont sachliche Übergänge und führen durch das gesamte Stück.
- Jeder Schnitt sitzt. Jede Nuance im Zusammenspiel von Text, Musik und O-Tönen stimmt. Film ab!
2. Schule, chillen, Schlagzeug spielen – Kinder in Deutschland erzählen
von Wiebke Köplin, Massimo Maio und Margot Overath (2013, DRadio Kultur)
Länge: 53:09
(Sorry, leider nicht mehr abspielbar. Grund: Öffentlich-rechtliche Sender dürfen Online-Angebote laut Gesetz nicht dauerhaft abrufbar halten.)
Eine lange Autofahrt in den Feierabend liegt vor mir. Auf den üblichen Sendern immer nur die gleiche Mainstream-Soße, aber mein Hirn braucht Futter, also mal rüber machen zum Deutschlandfunk/Deutschlandradio,
vielleicht läuft dort etwas „G’scheites“. Ich höre O-Töne von Kindern, lange, ausführliche Statements und denke: Wow! Da kann aber einer gut mit Kindern und gleich mal Respekt für diese Einfühlsamkeit und Geduld der Feature-Macher. Und schon bin ich mitten drin in dieser wunderbaren,
überraschenden, gnadenlos authentischen Reise durch den Alltag deutscher Kinder.
Die Faszination:
- Ein Stück OHNE Off-Ton, ohne Sprecher, gebaut nur mit den O-Tönen der Kinder. Da steckt großer Aufwand und viel Mühe dahinter.
- Aber nicht nur das! Die Macher ordnen die Statements der Kids sinnvoll in Episoden, die Überleitung von der ein zur anderen Episode gelingt ebenfalls mit O-Tönen. Die Kids führen quasi vermeintlich selbst durchs Feature. Ganz große Kunst!!
- Der Einsatz der Musik ist spärlich, sinnvoll und umso beeindruckender – besonders an der Stelle, an der ein Kind einen Rhythmus trommelt und die Musik die Vorgaben aufnimmt und an einer Stelle sogar mit den Aussagen der Kids eine Art Rap entsteht.
- Aber am meisten hat mich „geflasht“ – um im Jargon zu bleiben – wieviel vom Alltag der heutigen Kinder/Jugend über die O-Töne rüberkommt, wieviel die Minis reden, wenn man sie lässt, wie man durch geschicktes und einfühlsames Fragen viel von der Person erfährt – auch über die teilweise bedenklichen Lebensumstände und Familienverhältnisse.
- Das Feature schafft es, über die kindliche Offenheit und Unbekümmertheit erstaunlich viel über unsere Gesellschaft zu erzählen.
3. Heute ist Mittwoch der 10. Dezember
von Eran Schaerf (2009, BR)
Länge: 45:07
Peter Veit ist während der Frühschicht eingeschlafen, ganz kurz nur. Doch als er wieder wach wird, ist es bereits zu spät. Und zwar buchstäblich, denn es ist zwei Minuten nach neun Uhr. Seit zwei Minuten hätte der Nachrichtensprecher vor dem Mikro sitzen und die 9-Uhr-Nachrichten lesen sollen. Stattdessen hörten die Hörer der Wellen BR 1 und BR 2 nur Stille. Passiert ist das wirklich – am 10. Dezember 1990. Die Nachricht, dass es um 9 Uhr keine Nachrichten gab, verbreitete sich im ganzen Land und Peter Veit bangte nach dieser Panne um seinen Job.
Der Künstler Eran Schaerf hat aus dieser Radiopanne ein Hörspiel gemacht, das wunderbar alle Seiten beleuchtet. Die Berufsethik des Nachrichtensprechers, das Selbstbild des Senders. Und nicht zuletzt die Erwartungshaltung der Hörer, die es ganz toll finden, wenn es im Radio auch mal menschelt.
Faszinierend finde ich
- wie sehr sich Eran Schaerf auf die Geschichte konzentriert. Er braucht keine Musik, keine O-Töne. Nur das Wort. Anfangs ist das schwierig, weil es gegen unsere Hörgewohnheit ist. Zunächst hat man den Eindruck, dass das Hörspiel langweilig ist. Aber man gewöhnt sich daran und kann dann umso tiefer in die Geschichte einsteigen. Trotzdem: Leichte Kost ist das nicht.
- wie Peter Veit, der das Hörspiel selbst spricht, uns als Hörer in die Situation damals mitnimmt. Wenn er von der Frühschicht-Routine erzählt, dann tut er das so schwerfällig, dass man selbst ganz müde wird. Und wenn er dann die durchgelegene, etwas knösige Couch beschreibt, die im Nachrichtenstudio steht, möchte man sich selbst ein paar Minuten darauf ausruhen.
- wie unkompliziert viele Hörer sind. Wir Radioleute glauben immer, dass eine Panne auf Sendung das Schlimmste ist, das uns passieren kann. Das sehen die Hörer scheinbar deutlich entspannter – und das sollten wir uns hinter die Ohren schreiben.
4. Kids – Berlin-Kreuzberg, 7 Mädchen, 365 Tage.
von Katrin Moll (2014 SWR, DRadio Kultur)
Länge: jeweils 25:00
Die Serie begleitet sieben Mädchen mit nicht-deutschen Wurzeln in Berlin-Kreuzberg durchs letzte gemeinsame Schuljahr. Der Hörer erlebt mit, was die Mädchen erleben: Schulstunden, Praktikum, Aushilfsjobs, Shoppen, Chillen, Familenleben. Ein ganzes Jahr lang hat Reporterin Katrin Moll die Mädchen begleitet.
Mich fasziniert:
- Wie schön verschränkt die O-Töne collagiert sind. Oft als Parallelgeschichte, bei der sich Aufnahmen aus verschiedenen Szenen mischen und gerade dadurch Aussagekraft bekommen. Beispiel: Wir hören immer wieder im Wechsel, wie die Mädchen erklärt bekommen, was beim Flyer verteilen zu tun ist, gleichzeitig aber auch, wie sie es später umsetzen.
- Wie nah Katrin Moll den Mädchen kommt. Wie unverstellt die Mädchen sich ihr gegenüber geben. Natürlich ist das eine Frage der langen Zeit, die man miteinander verbringt, aber eben auch typisch Radio. Vor der Kamera sind Menschen selten so unverstellt.
- Die kurzen Einordnungen der Mädchen selbst. Sie sind ihre eigenen Reporter. So bleibt die Authentizität erhalten, selbst da, wo eine „Stimme aus dem Off“ nötig wird (erinnert mich auf schöne Art an die Radio Diaries bei NPR)
- Die kurzen, prägnanten musikalischen Kapiteltrenner. Sehr geschmackvoll angepasst. Unaufdringlich überleitend.
- Alles zusammen zeigt: O-Töne haben viel Aussagekraft, wenn man ihnen Raum lässt. Sie wirken sehr intensiv und authentisch. Das ist die dokumentarische Stärke des Radios. Die Soap dazu schreibt das Leben selbst.
Sehr beeindruckend übrigens: Katrin Moll hatte die Mädchen schon über Monate mit dem Mikro begleitet ehe sie sich entschieden hat, daraus eine Collage, eine Serie zu machen. So erzählt sie es selber:
(Sorry, leider nicht mehr abspielbar. Grund: Öffentlich-rechtliche Sender dürfen Online-Angebote laut Gesetz nicht dauerhaft abrufbar halten.)
Das ist ungewöhnlich. Nicht nur, weil das eine bewundernswerte Hingabe ans Radiohandwerk zeigt. Sondern auch, weil im Storytelling-optimierten Journalismus heute viele nur noch mit Vorab-„Drehbuch“ arbeiten. Das ist nicht grundsätzlich schlecht, und hilft oft, eine besser Dramaturgie zu finden. Es verhindert manchmal aber auch genau die Nähe, die Katrin Moll bei Ihren Aufnahmen erreicht hat. Es scheint, als habe sie einfach die Wirlichkeit ins Mikro fließen lassen und dann im Schnitt, die Geschichte(n) herausgefiltert, die die Wirklichkeit ihr geschenkt hat. Und auch das ist Storytelling. Ohne Vorwegnahme. Geht auch, wie man hört.
5. Gentechnik mit Bastelanleitung – Wenn Biohacker in Garagen mit Erbgut spielen
von (2014 BR)
Länge 24:11
Tom:
Es gibt Themen, die müssen einfach gemacht werden. Dazu gehört die folgende Geschichte sicherlich auch: In Österreich führen ambitionierte Tüftler Experimente mit Gentechnik in einer privaten Wohnung durch. Dazu sind die „Jungs“ auch noch überaus freundlich, gut gelaunt und durchaus radiophon. Gentechnik muss nicht immer hoch kompliziert, teuer und mystisch sein. Und: Obwohl sich viele Biohacker selbst als relativ harmlos einstufen und kein Interesse haben, die Zombiapokalpyse herbei zu beschwören: Die Regierung beobachtet solche Aktionen mit einem gewissen Misstrauen. Das alles zeigt der BR2-Beitrag: Zwei Reporter berichten über die zwei Seiten dieses Hobbys.
Was mir daran besonders gefällt:
- Der Dialog. Obwohl es sich bei dem Stück um ein Kurz-Feature handelt, sprechen hier zwei Moderatoren, relativ alltagssprachlich und frei miteinander. Die O-Töne werden dazu wie im Kollegengespräch eingespielt. Auch wenn es teilweise etwas gespielt wirkt. Das Thema lässt sich wunderbar von den Reportern erzählen.
- Bildliche Beschreibungen. Die beiden Moderatoren geben sich unglaublich viel Mühe, die verschiedenen Schauplätze zu beschreiben; die Reporter nehmen die Hörer an jeden Ort mit, egal ob privates Genlabor oder Behörde.
- Der Mut zum Sound, zur Musik. Die einzelnen Sprecherpassagen werden mit passender Musik untermalt. Komplexere Teile werden mit Sounds erklärt. Da bekommen die einzelnen DNA-Bestandteile eigene Töne. Anstatt dann nur zusagen, wie die DNA von Pute aufgebaut ist, wird es einfach abgespielt. Unbedingt: Mehr davon!
Lust auf noch mehr Beispiele für gutes Radio?
Dann hier im Blog immer wieder mal unter „Best Practice“ nachsehen oder Sandra Müllers Tweets dazu durchstöbern. Und na klar: Selber was vorschlagen! Was hat Euch denn zuletzt an den Ohren gepackt? Lasst es uns wissen.
Teil 1 der radio-machen.de-Hörempfehlungen findet ihr übrigens hier.
Zum Teil 2: Da lang.
Über Udo: Macht Radio-Nachrichten in Köln – erst 6 Jahre bei radioNRW, inzwischen 17 Jahre für WDR und DLF. On Air und Off Air. Bloggt und twittert über Nachrichten, ihre Form und Sprache. Versteht „Nachrichtenjunkie“ als Kompliment.
Über Harry: Ist schon seit 20 Jahren Redakteur des Südwestrundfunks. Seine Liebe zum Hörfunk ist immer noch frisch, wie am ersten Tag, auch wenn er jetzt die meiste Zeit mit bewegten Bildern zu tun hat und auch oft selber vor der Kamera zu sehen ist.
Über Patrick: Ist Journalist in Köln. Seine Liebe zum Radio hat er an der Kölner Journalistenschule entdeckt. Seitdem sind die beiden unzertrennlich, meistens jedenfalls. Mehr unter www.patrickfina.de.
Über Tom: Ist beim freien Radio groß geworden. Wollte laut Poesie-Album (2.Klasse!) Chemiker oder Zeitungsjournalist werden. Dann kam das „Was mit Medien“-Studium. Heute macht er gerne Wissenschaftsbeiträge, bloggt und twittert.
Über Sandra: Liebt Radio-Hören und -Machen. Schreibt deshalb darüber in diesem Blog.
Ist hin und weg, übers Netz viele Leute gefunden zu haben, die sich auch gern an den Ohren packen lassen und darüber reden.