Eine Geschichte (fast) ohne Wandel. (Teil 2)
Und deshalb Zeit, Neues zu probieren
Nachrichten im Radio klingen immer gleich. Mehr oder weniger. Im Prinzip jedenfalls hat sich wenig verändert, findet Dietz Schwiesau, der Wortchef beim MDR Sachsen-Anhalt. Und sein Rückblick auf die Anfänge der Nachrichten im (deutschen) Radio beweist das.
Deshalb will Dietz Schwiesau jetzt Neues ausprobieren in einer „Zukunftswerkstatt Radionachrichten“ vom 23. bis 25. Mai 2014 in Magdeburg. Ideen und Anregungen dafür sind via Twitter schon jetzt gefragt unter #newsneu.
Das Ziel: Neue Impulse für Radionachrichten. So wie damals, als die Erkenntnisse eines Tübinger Professors die Radiowelt bewegten.
Dietz Schwiesau über den großen Nachrichten-Streit der 70er, der sogar den Bundespräsidenten und SPIEGEL-Redakteure beschäftigte und die Radiomacher wachrüttelte (Geschichte der Radionachrichten, Teil 2):
In der Rückschau erklären Beteiligte später, es habe sich um eine „kontroverse, ja zum Teil feindselige Auseinandersetzung“ gehandelt. Der Nachrichtenchef des DLF, Hanns Gorschenek, schreibt rückblickend:
„Die Nachrichten gerieten in das Sperrfeuer wissenschaftlicher Untersuchungen.“
Damit meint er den (später) Tübinger Professor Erich Straßner. Er hat erstmals die Verständlichkeit von Hörfunknachrichten getestet und festgestellt:
„Die Rundfunknachrichten werden in ihrer jetzigen, historisch entwickelten sprachlichen Form ihrer Funktion, die breite Öffentlichkeit über die aktuellsten Sachverhalte zu informieren, nicht gerecht.“
Seine viel zitierte Kernthese ist:
„Bei der Vermittlung der Nachrichten durch den Rundfunk wird vor der Information ein Zaun von Sprache errichtet, der einem großen Teil der Konsumenten die Rezeption unmöglich macht…“
Der Streit ist so heftig und grundsätzlich, dass er nicht nur Fachleute beschäftigt, sogar Bundespräsident Heinemann schaltet sich ein. DER SPIEGEL schreibt 1972:
„Wenn aus dem Radio der Gongschlag ertönt, übt sich mancher deutsche Bürger in Resignation. Denn die neuesten Nachrichten, die dann folgen, versteht er meist nur schlecht und oft falsch.“
Die Diskussionen um die Nachrichten und der Konkurrenzdruck des Fernsehens bleiben nicht folgenlos. Seit dem Ende der 60er Jahre erleben die Nachrichten einen beispiellosen Innovationsschub. So gibt es bei beim Saarländischen Rundfunk seit 1970 die ersten Nachrichten mit Einspielern.
1973 – Nachrichten der Europawelle Saar
Ein Reporterstück in den Nachrichten. Per Telefon! Das war hörbar anders.
Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv
Den Nachrichtenredakteur am Mikrofon erleben in den 70er-Jahren die Hörer des Südwestfunks. Redakteure lesen beim SWF zunächst Presseschauen, seit Anfang 1972 sprechen sie auch Nachrichten selbst – in der reformierten Zeitfunksendung „Tribüne der Zeit“. Redaktionsleiter Roland Schrag meint, so wolle man den Nachrichten ihren ‚Verkündigungsstil‘ nehmen. Der Redakteur müsse sich seine Nachrichten ‚auf den Mund‘ schreiben, was dazu führen solle, „daß die Nachrichten mit der Zeit den Charakter des Offiziösen verlieren“. Damit habe man sich auf ein Terrain begeben, dass zuvor noch „niemand in der Bundesrepublik beackert“ habe. Dabei sei es lange Zeit undenkbar gewesen, daß die „heilige Kuh herkömmlicher Rundfunk-Nachrichten“ eines Tages auch in Deutschland „unters Messer kommen“ könnte.
Auch die ersten Nachrichtensprecherinnen dürfen ans Mikrofon. Davon sind nicht alle begeistert, so wie der Nachrichtenchef des BR, Clemens Martin. Er notiert 1976; er habe grundsätzlich nichts gegen weibliche Sprecher. Allerdings habe er erst kürzlich die weibliche Renommiersprecherin der Tagesschau (Dagmar Berghoff) gesehen, die ihm leid getan habe:
„Der Umgang mit der trockenen Materie der Nachrichten nahm sie geistig so in Anspruch, so daß sie völlig vergaß, in ihrem sonst recht lieblichen Antlitz noch einige entspannte Züge zu pflegen.“
Der SWF probiert, mit zwei Sprechern die Sendungen lockerer zu gestalten:
1971 – SWF-Nachrichten
Einmal Du, einmal ich: Zwei Stimmen im Wechsel.
Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv
Der Hessische Rundfunk bietet 1971 seinen Hörern erstmals „Nachrichten mit Hintergrund“. Dazu kommt ein Redakteur ins Studio, der den Hintergrund ausgewählter Nachrichten erläutert.
1973 – HR-Nachrichten
Erklärung mit Ansage:
„Hören Sie zu dieser Meldung eine Erläuterung der Redaktion“
Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv
Der Bayerische Rundfunk und andere Programme experimentieren mit Nachrichtensprechern, die ihre Meldungen frei formulieren. Während sich Wissenschaftler dafür aussprechen, warnen Praktiker davor, „sich von der schriftlich fixierten Nachricht abzuwenden“. Das empfehle sich nicht wegen der Kürze, Präzision und Kontrollierbarkeit.
„Die frei improvisierte Nachricht wirkt oft allzu schwatzhaft, zungenfertig und inhaltsarm.“
Der Saarländische Rundfunk geht einen anderen Weg, er sendet ab 1980 ein Nachrichtenmagazin:
1980 – SR3-Nachrichten
Mit Supermario-Sound, Trommeln, Einspielern:
Nachrichten werden gestaltet.
Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv
1980 kommt der Nachrichtenchef des SDR, Rudolf Fest, zu dem Schluss:
„Früher einmal – das war in der Zeit, bevor die Wissenschaftler die Nachrichten entdeckten – beschränkte sich der Ehrgeiz eines Redakteurs darauf, schnell und zuverlässig zu informieren. Er dachte kaum oder nur wenig daran, ob diese Informationen auch vom Hörer aufgenommen werden. Das hat sich geändert.“
Die Nachrichtenredakteure bemühen sich erkennbar um eine lockere Sprache, wie an diesem Beispiel des SWF deutlich wird:
1982 – SWF-Nachrichten
Koalitionen platzen, Politiker nehmen Hüte: Die neue Nachrichtensprache.
Quelle: Deutsches Rundfunkarchiv
Der Nachrichtenchef des SDR weiß aber auch, dass die ARD-Nachrichten an vielen Hörern vorbei senden. Fest und die anderen ARD-Nachrichtenchefs kommen 1979 in einem gemeinsamen Positionspapier zu einer bemerkenswert selbstkritischen Einschätzung:
„Die Nachrichten sind hinsichtlich ihrer Themenkataloge und Darbietungsformen reformbedürftig. Die Nachrichten enthalten für viele Hörer immer noch unüberwindliche Sprachbarrieren.“
Über den Autor: Dietz Schwiesau ist Wortchef von MDR Sachsen-Anhalt, Nachrichtentrainer und Buchautor („Radio-Nachrichten“, „Die Nachricht“). Zuletzt erschienen: Ines Bose/Dietz Schwiesau (Hg.) Nachrichten schreiben, sprechen, hören. Forschungen zur Hörverständlichkeit von Radionachrichten. Darin auch: „Nachrichten ‚im Sperrfeuer‘ der Wissenschaft – Die große Debatte um die Hörfunknachrichten und ihre Sprache“.
Geschichte der Radionachrichten, Teil 1, finden Sie hier.
Disclosure: Sandra Müller, die Betreiberin dieses Blogs, wird die Zukunftswerkstatt Radionachrichten im Mai publizistisch begleiten und wird dafür von der ARD.ZDF medienakademie bezahlt.